Sammelalbum
1977



Aus "Bunte"

SAILOR - Vier Gentlemen mit schlimmen Liedern
Ihre Songs handeln von Seemännern und leichten Mädchen. Privat allerdings sind sie keine Abenteurer. Nur ihr Erfolg ist abenteuerlich.

Neben zahllosen Filzköpfen hat Englands Popwelt wieder vier Pilzköpfe. Es sind höchst ehrenwerte Herren in den Dreißigern, und sie tragen einen ähnlich gepflegten Haarschnitt wie die Beatles zu Beginn ihrer Ära. Was indes vor dreizehn Jahren wegen der Länge schockte, verblüfft heuer durch die Kürze. So ändern sich die Zeiten.
Kaum weniger Erstaunliches tut sich im Saal: Da stehen die Fans auf den Stühlen, erpressen Zugaben von halbstündiger Dauer, trampeln, toben, jolen - ziehen sich anschließend die Krawatte gerade und gehen nach Hause.
Seit zwei Jahren segelt das Quartett auf strammem Erfolgskurs durch England und fast ebenso lange auch in ganz Westeuropa. Die vier Pop-Opis nennen sich SAILOR, zu gut deutsch "Seeleute". Ihre Songs - originell, melodisch und unverwechselbar - entstammen dem Milieu der Hafenkneipen und roten Laternen. Die erfolgreichsten: "Girls, Girls, Girls", "A Glass Of Champagne" und "One Drink Too Many".
Ähnlich wie Deutschlands Show-Seemann Freddy haben auch die SAILOR nie gegen Wind und Wogen angekämpft, sondern allenfalls jahrelang gegen ein stetes Hungergefühl. Ein im Nachhinein gütig zu preisendes Schicksal führte Ende der sechziger Jahre in Paris zusammen. Damals gab es in der Seine-Metropole ein Cafe Le Matelot (deutsch: Zum Seemann), in dem seit den dreißiger Jahren eine Band spielte. Mit wechselnder Besetzung: Fiel einer aus, wurde ein neuer Mitspieler angeworben.
So kamen nach und nach vier Herren zusammen, die zufälligerweise sämtlich britische Staatsbürger waren; teilweise nicht nur mit Musik, sondern gar mit was Blauem im Blut.
Georg Kajanus, Jahrgang 46, hält sich beispielsweise was darauf zugute, dass sein Opa ein leibhaftiger russischer Prinz war. Der heutige SAILOR-Chef ist in Norwegen zur Welt gekommen, hat seine Jugend größtenteils in Paris verlebt, ein paar Jahre auch in Kanada und Mittelamerika. Verschiedenen Studienfächern mochte er nicht so viel abzugewinnen wie seinen Hobbys: dem Malen, Fotografieren und Komponieren.
Blaublütig ist auch Henry Marsh, als einziger noch nicht in den Dreißigern (Jahrgang 48). Er kam als zweiter Sohn eines englischen Lords zur Welt, besuchte standesgemäß die hochfeine Oxford-Schule und trieb sich zum Shocking seiner Familie nach dem Examen als Tramp auf dem Kontinent herum. Seine 1a Abstammung merkt man ihm nach Meinung der drei anderen an: Henry trägt außer der Nickelbrille meist eine Rose im Knopfloch, stets (auch im Zimmer) einen Hut und fast immer einen Schlips.
Phil Pickett ist 1946 in Münster zur Welt gekommen, wo der Papa Besatzer spielte. Nach der Schule besuchte Phil Schauspielkurse, erlernte beiläufig fast sämtliche Instrumente und ging mit diesem Wissen auf große Trampreise durch Europa und Amerika.
Schließlich ist da noch Grant Serpell, der Drummer und dreiunddreißigjährige Senior. In Frankreich ist er zur Welt gekommen, in Kanada hat er das Laufen und in London das ABC gelernt. Papa war Musikprofessor mit internationalen Gastprofessuren, der Sohn schlug mehr ins technische Fach. Studierte Chemie, dann Computertechnik - und schließlich Taktgefühl am Schlagzeug. Der Chemie gilt indes noch immer seine Liebe. "Eines Tages", träumt er hoffnungsschwanger hinter seiner Trommel, "wird die Welt von einer riesigen Erfindung hören. Die ist dann von mir."
Feuer in der SAILOR-Kneipe. Aber das Nickelodeon überlebt.
Zwei Jahre hatten die vier Briten Gelegenheit, sich aufeinander einzuspielen. Dann gab's ein unschönes Feuerchen: In einer Herbstnacht des Jahres 1971 brannte das Café Le Matelot lichterloh. Manche Dirne verlor den Kontaktplatz, mancher Gast den Stammhocker - und die vier Musiker ihren Job.
Georg schrieb fortan Songs für andere, Phil wurde ein begehrter Studiomusiker in London, Henry arbeitete als Klavierlehrer und Grant tüftelte an der Erfindung, die ihn berühmt machen sollte.
Doch der Ruhm kam aus anderer Richtung. Steve Morris, Musikverlegersohn, hatte das Quartett in Paris gehört und für so gut befunden, dass er Wiederbelebungsversuche anstellte. Es währte allerdings drei Jahre, bis Georg die drei Kumpel wieder ausfindig gemacht hatte.
Zu den Plattenaufnahmen schleppten die vier einen Kram an, der altbewährte Studiomusiker das Staunen lehrte: eine Gitarone, eine Charango, eine Veracruziana-Harfe und eine kompliziert zu spielende 12-Saiten-Gitarre. Am hinderlichsten war ein Gerät, das wie zwei zusammengeklebte Klaviere aussah und das es auf der Welt nur einmal gibt. Die SAILOR nennen es Nickelodeon: So hieß einstmals ein automatisches Klavier, das die Saiten mittels einer dornenbespickten Walze auslöste. Freilich hatten die Bastler Kajanus und Serpell längst ein wahres Wunderinstrument daraus gemacht: "Es besteht aus zwei Pianos, zwei Synthesizern, einem elektronischen Glockenspiel und anderen Spielereien. Wir erreichen damit Soundeffekte, die sonst nur durch stundenlanges Herumexperimentieren im Studio hinzukriegen wären." So kommt aus dem seltsamen Kasten neben "normalen" Pianotönen auf Wunsch Drehorgelmusik oder auch das schrille Klimpern verstimmter Westemsaloon-Klaviere.
Komponist und Texter aller SAILOR-Songs ist Georg Kajanus. Am liebsten schreibt er über Haltlose und Zuhälter, Abgetakelte und Lebenskünstler, Weltenbummler und Aufschneider, leichte Mädchen und schnelle Mädchen.
Freilich fehlt der dräuende moralische Zeigefinger: "Wir wollen nicht belehren, wir wollen fröhliche Lieder und fröhliche Musik machen", definiert Georg Kajanus sein Erfolgskonzept, das - wie seinerzeit bei den Beatles - ein internationales ist: In den USA stehen SAILOR in den Hitparaden, in der UdSSR war ein eingeführtes LP-Kontingent bereits verschachert, ehe die Pakete durch den Zoll kamen.
Alle vier sind übrigens verheiratet: Georg mit einer Japanerin, Grant mit einer Französin, Henry und Phil mit Engländerinnen.
Wünsche an die Zukunft? "Weiterhin soviel Erfolg, weiterhin gute Ideen für Georg, vielleicht ein bisschen mehr Ruhe und Zeit für Golf und Bootfahren", grübelt Phil, der Clown der Gruppe. Wie wär's mit einem Hosenbandorden wie für die Beatles? "Natürlich. Wenn sie noch einen hat, die Queen."
Majestät darf nachschauen. Die dritte SAILOR LP "The Third Step" - übrigens eine BUNTE-LP- ist seit Monaten auf weltweitem Siegeszug. Gleich zwei Singles wurden ausgekoppelt und in die internationalen Hitparaden geschickt: "Stiletto Heels" und "One Drink Too Many". Und während die deutsche Phono-Akademie dem Pop-Quartett soeben den "Deutschen Schallplattenpreis" für die beste internationale Schlagermusik verlieh, kündigte SAILORs Plattenfirma für "The Third Step" bereits die nächste Goldene an.

Nach der Show sind die rüden "Seeleute" brave Familienväter
Phil heiratete eine Engländerin - Ann. Vor einem Jahr kam Sohn Jack.
Grant und Michelle, eine Französin, Sohn Edmund und Tochter Charlotte.
Seit sechs Jahren ist Henry mit Susan verheiratet. Sohn Thomas ist zwei.
Georg ging in Paris bei Christine, einer netten Japanerin, "vor Anker".

Der Text neben den Fotos:
Phil Pickett ist der Ideengeber von SAILOR. Ehe es die Gruppe gab, nahmen bereits Percy Sledge, Georgie Fame und andere Popstars seine Kompositionen auf. Er versuchte sich als Schauspieler und trampte jahrelang durch Amerika - bis er bei Georg Kajanus anheuerte.
Henry Marsh ist der mit den besten Manieren. Kein Wunder: Als Sohn eines englischen Lords war er auf den feineren Schulen von Dorset und Oxford - und ein Schulkollege von Prinz Charles. Zum Kummer seiner Familie trieb er sich nach dem Examen als Tramp und Musiker herum.
Grant Serpells Schläge treffen immer - ob beim Golf, seinem liebsten Freizeitvergnügen, oder an den Trommeln seiner "Schießbude". Der Drummer der Gruppe wurde in Frankreich als Sohn eines Musikprofessors geboren, wuchs in Kanada auf und studierte in England unter anderen Chemie.
Georg Kajanus, Enkel eines russischen Prinzen, ist der Gründer von SAILOR und der Komponist fast aller Songs. Seine Kreativität kennt auch zu Hause keine Grenzen. Da betätigt er sich als Freizeit-Maler.
In Kürze gibt es Gold für die BUNTE-LP "The Third Step" (CBS 81701).

Vielen Dank an Thomas Henning (Berlin, Deutschland)!


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